Vortrag: Die Hadith-Wissenschaft – Ein Überblick
Angaben zum Vortrag
Titel: Die Hadith-Wissenschaft – Ein Überblick
Ursprünglicher Titel: Die Niederschreibung der Sunnah
Von: Abu Hamzah al-Afghani
Sprache: Deutsch
Zeitpunkt des Vortrags: Jahreswende 2004/2005
Neu veröffentlicht: 2020
Es handelt sich bei diesem Vortrag um den ersten Teil einer Vortragsreihe über grundlegende Themen des Islam, die zur Jahreswende 2004/2005 stattfand. Dieser erste Teil wurde Ende 2004 gehalten. Der Vortrag wurde überarbeitet und es wurde versucht, die Qualität soweit möglich zu verbessern. Die weiteren Teile der Reihe wurden in besserer Qualität aufgenommen.
Audio-Datei
Inhalt
• Die 2. Rechtsquelle im Islam – Was ist „Die Sunnah des Propheten“? (صلى الله عليه وسلم)
• Die Hadith-Wissenschaft, die Überlieferungskette, erlogene „Hadithe“
• Die Überlieferungskette – Nur was korrekt überliefert wurde, darf dem Islam zugeschrieben werden
• Wann wurden die Hadithe niedergeschrieben?
• Die sechs Hadith-Werke – al-Kutubu s-sittah
• Al-Bukhari‘s unglaubliche Fähigkeiten! – Das Sahih-Werk
• Imam Muslim – Die beiden Sahih-Werke – Der Begriff „Amiru l-Mu’minina fi-l-Hadith“
• Die vier Sunan-Werke: Abu Dawud, at-Tirmidhi, an-Nasa’i, Ibnu Majah
• Schwarze Gelehrte/Nicht-Araber – Rassismus und Islam?! … Unvereinbar.
• Einstige Sklaven wurden Lehrer! – Die Zeit der Mawali
• Al-Muwatta‘ von Imam Malik – Das erste umfassende Hadith-Werk
• Ahmad ibn Hanbal – Der Musnad – asch-Schafi‘i
• Die sechs Bücher umfassen den Großteil der Hadithe
• Das Streben nach Wissen: Eine islamische Pflicht für Mann und Frau
Anmerkungen
Sind die sechs bekannten Hadith-Bücher (al-Kutubu s-sittah) die wichtigsten Bücher der Überlieferung?
Im Vortrag erwähnte ich, dass die sogenannten „sechs Hadith-Bücher“ die wichtigsten Werke der Hadith-Überlieferung sind. Dies war insbesondere in dem Sinne gemeint, dass diese Bücher – wie in dem Vortrag auch erklärt – im Großen und Ganzen die gesamte Sunnah des Propheten (صلى الله عليه وسلم) umfassen.
Der Stellenwert dieser sechs Werke rührt auch daher, dass ihre Verfasser versucht haben, in den jeweiligen Themengebieten die möglichst richtigen Überlieferungen anzuführen, und ihre Werke dahingehend auch über einen langen Zeitraum bearbeiten konnten. Schließlich konnten sie auch auf die Arbeiten früherer Gelehrter zurückgreifen.
Ebenfalls wurden diese Bücher dadurch bekannter unter den Leuten, dass sie im Allgemeinen nach Themen geordnet sind. Die sogenannten Masanid, zu denen auch der Musnad von Ahmad zählt, sind im Gegensatz dazu nach den (zeitlich gesehen) ersten Überlieferern, im Normalfall also nach den Prophetengefährten (رضي الله عنهم) geordnet.
Es gibt noch weitere Gründe für die Bekanntheit dieser Werke, die hier nicht weiter besprochen werden sollen.
Jedoch sei hier darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, dass diese sechs Bücher hinsichtlich ihrer Wertigkeit in jeder Hinsicht über anderen Werken stehen. Vor allem ist hier auf den hohen Stellenwert der beiden Werke von Malik und Ahmad hinzuweisen.
Das Werk al-Muwatta‘ von Imam Malik ist mit Sicherheit eines der bedeutendsten Werke der Hadith-Überlieferung. Die Verfasser der sechs Hadith-Bücher überlieferten in ihren Werken auch die Hadithe von Malik.
Abgesehen davon zeichnet sich das Werk von Malik durch seine zeitliche Nähe zur Zeit der Offenbarung aus.
Auch der Musnad von Ahmad zeichnet sich in diesen Hinsichten gegenüber den späteren Büchern aus und es wären sicher auch weitere Vorzüge des Musnad zu erwähnen.
Schließlich gibt es darüber hinaus kleinere Hadith-Sammlungen, auf die im Vortrag auch hingewiesen wurde, z.B. in speziellen Gebieten des islamischen Wissens. Da manche davon die Sunnah im weiteren Sinne – also die grundlegenden Inhalte des Islam, die einheitlich von den frühen Generationen und ihren Gelehrten vertreten wurden – thematisieren, sind diese Werke natürlich ebenso von außerordentlicher Wichtigkeit für ein richtiges Verständnis des Islam.
Waren die Verfasser der sechs Hadith-Bücher alle Nicht-Araber?
Es wird seit langem oft behauptet, dass die Verfasser der al-Kutubu s-Sittah Nicht-Araber waren. Da ich früher auch etwas in diesem Sinne erwähnt habe, vor allem aber auch, weil einige Leute diese Behauptung missbrauchen wollen, soll diese Angelegenheit etwas verdeutlicht werden. Solche Leute führt ihr Unwissen und völliges Unverständnis zu absurden Annahmen über die Überlieferung der Sunnah …
Die obengenannte Behauptung trifft nicht auf alle sechs Verfasser zu. Bei mehreren davon wird erwähnt, dass sie ursprünglich, also von der Abstammung her, Araber waren.
Al-Bukhari war tatsächlich ein Nicht-Araber, wobei er einem arabischen Stamm zugerechnet wird, jedoch nicht hinsichtlich der tatsächlichen Abstammung, sondern „walā’an“ wie man sagt.
Muslim hingegen war ein „Quschairi“, entstammte also diesem arabischen Stamm tatsächlich – auch wenn er, wie alle sechs Verfasser, im nicht-arabischen Teil der islamischen Welt einen Großteil seines Lebens verbrachte und dort auch geboren wurde.
Letztere Tatsache führte auch zu der hier besprochenen, falschen Annahme.
Der Gedanke, durch die Herkunft der nicht-arabischen Gelehrten zeigen zu wollen, dass im gelebten Islam die Hautfarbe und Abstammung keine Rolle spielten und Menschen aller Hautfarben und Länder zu den bedeutendsten Gelehrten wurden, wird dadurch natürlich nicht beeinträchtig. Alleine das Beispiel von al-Bukhari ist dafür völlig ausreichend.
Abgesehen davon waren all diese sechs Personen bedeutende Gelehrte, welche die arabische Sprache von Anfang an lernten und über diese auch sehr wissend waren. In diesem Sinne, der in mehrerlei Hinsicht durchaus entscheidend ist, also im Hinblick auf ihre Sprache, waren sie alle also Araber.
Wen at-Tirmidhi meint, wenn er sagt: „Ich habe Muhammad gehört“
In diesem Unterricht, den ich 2004 hielt, vertauschte ich etwas und sagte fehlerhafterweise, dass at-Tirmidhi in seinem Sunan-Werk oft sagt „Ich habe Abu Abdillah gehört …“, und damit al-Bukhari meinte.
Das Richtige ist jedoch, dass at-Tirmidhi in seinem Werk mehrfach sagte: „Ich habe Muhammad gehört …“ (سمعت محمداً), und damit Muhammad ibnu Ismail al-Bukhari meinte. Noch öfter nannte er den ganzen Namen „Muhammad ibnu Ismail“.
Die Wichtigkeit der arabischen Gelehrten
Es sollte klar sein – und etwas anderes war mit den Erklärungen im Vortrag auch nicht gemeint –, dass in jener im Vortrag angesprochenen „Zeit der Mawali“ nicht ausschließlich Nicht-Araber die Gelehrsamkeit des Islam bildeten.
Mit dieser Benennung bzw. Einteilung will man im Wissensgebiet der sog. „Geschichte der islamischen Rechtsprechung“ (تاريخ التشريع) lediglich ausdrücken, dass es zu dieser Zeit eine sehr große Aktivität der Nicht-Araber in den islamischen Wissenschaften gab.
Ohne Zweifel zählen jedoch sehr viele arabische Gelehrte zu den größten Gelehrten des Islam. Im Speziellen gilt dies natürlich für die ersten Generationen der Muslime. Auch in diesem Vortrag wurden Malik, asch-Schafi’i und Ahmad genannt und ihre Vorzüge erwähnt – und sie alle waren Araber.
Das hier Gesagte gilt natürlich ohne Zweifel auch für die Sprachgelehrten. Es war von mir nicht beabsichtigt, dies anders darzustellen.
Der Zeitraum des Wirkens der sechs genannten Gelehrten
Ich erwähnte im Vortrag, dass die Verfasser der sechs Hadith-Bücher etwa in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts „gelebt“ hatten (250 – 300 n. H.). Dabei hatte ich mich wie üblich vor allem auf die Sterbedaten konzentriert.
Jedoch ist klar, dass z.B. und vor allem das hauptsächliche Leben und Wirken von al-Bukhari, dem ersten dieser sechs Gelehrten, früher einzuordnen ist und zu einem Großteil in die erste Hälfte jenes Jahrhunderts fiel.
Der Gebrauch des Wortes „Imam“
Das arabische Wort Imam bezeichnet im Grunde einen Anführer. Bei Gelehrten ist damit gemeint, dass sie eine für die Muslime führende geistige Position einnahmen.
Es ist angebracht darauf hinzuweisen, dass der übermäßige Gebrauch des Wortes zu vermeiden ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Betitelung mit „Imam“ für einen Gelehrten unzulässig oder eine Neueinbringung (Bid’ah) wäre – wie dies offenbar manche behaupten. Denn die frühen Gelehrten selbst verwendeten den Begriff durchaus für andere herausragende Gelehrte.
Vermieden werden sollte hierbei auch die Spezifizierung (تخصيص) einiger weniger Persönlichkeiten. Dies führte nämlich dazu, dass viele Menschen dachten und auch heute noch denken, nur diese speziellen Personen hatten eine gewisse Stellung in der islamischen Gelehrsamkeit und man dürfe auch nur sie so benennen und müsse dies darüber hinaus immer bei der Nennung ihres Namens tun. Für eine derartige Spezifizierung gibt es aber keinen annehmbaren Beweis.
Klar ist auch, dass diese Benennung keinesfalls für Leute taugt, die falsche und unzulässige Ansichten und Neueinbringungen (Bida‘) vertraten, ganz egal wie bekannt einzelne solche Personen wurden. Da die Menschen zu jeder Zeit auch teilweise dazu neigen fehlgegangene Personen übermäßig zu loben, ist es für den Studenten des Islam in der Anfangsphase im Regelfall quasi unmöglich in Bezug auf jede Einzelperson klar zu sehen.
Leute, die von sich etwas anderes behaupten, sind so gut wie immer ebenfalls nicht davon verschont, aber zusätzlich von Unwissenheit und sehr ausgeprägtem Selbstbetrug geplagt. Diese Unaufrichtigkeit tritt dann weiter zutage, wenn es bei solchen Leuten zu merkwürdigen Selbstinszenierungen vor anderen kommt. Möge Allah uns alle vor derartiger Unaufrichtigkeit verschonen. Amin.
Zum Wort „al-Muwatta‘“
Beim nochmaligen Anhören des Vortrages stellte sich mir die Frage, ob es angemessen ist, im Deutschen „die Muwatta‘“ zu sagen. Das Wort ist im Arabischen grundsätzlich maskulin und nicht feminin. Dennoch erscheint mir „der Muwatta‘“ oder „das Muwatta‘“ ungewohnt und auch nicht gebräuchlich. Vielleicht ist es angebrachter, im Allgemeinen „al-Muwatta‘“ zu sagen, was teilweise im Deutschen aber wohl auch etwas ungewohnt sein dürfte. Wie auch immer man dies handhabt, ich wollte hier lediglich darauf hinweisen, dass das Wort im Arabischen nicht weiblich ist.
Das Wort „Wir“
Es sei darauf hingewiesen, dass bei Ausdrücken wie: „wir hatten das besprochen“ usw. von mir niemals auch nur ansatzweise die Bedeutung des Majestätsplurals bezweckt wurde. Ebenso betrifft dies Stellen in meinen Vorträgen, wo ich z.B. sagte: „wir hatten besprochen“ usw. Derartiges wurde nur aufgrund der Gewohnheit so ausgedrückt und ist stilistisch ausschließlich im Sinne von: „Wir hatten das gemeinsam besprochen“ zu verstehen.
Ich erwähne dies, weil manche Leute sich – häufig trotz großer Unwissenheit – durch die wiederholte Verwendung dieses Wortes in absurder Weise selbst erhöhen, z.B. durch oftmaliges Wiederholen von Aussagen wie: „Wir haben abgelehnt“, „Wir haben getadelt“ und dergleichen.
Es muss hier jedoch für den arabischen Sprachgebrauch erwähnt werden, dass es bei manchen Gelehrten der islamischen Frühzeit und auch ganz allgemein im frühen arabischen Stil durchaus gängig war, im Plural zu sprechen, wobei man sich selbst meint – auch wenn dies von jenen Gelehrten nicht im Sinne des Majestätsplurals und des Selbstlobs gesagt wurde.
Und zu allem hier Erwähnten sei gesagt: Allahu a’lam – Allah weiß es am besten.